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Prayers

Wortlos beten

Ein Gebet - die persönliche Zuwendung oder Bitte - in Worte gefasst oder stumm - meist an eine Gottheit oder andere transzendente Wesen, an das Universum oder an Ahnen. Der Mensch betet für sich selbst, für andere, im Stillen oder in der Gemeinschaft, jedoch ist und bleibt es immer ein zutiefst persönlicher und intimer Austausch der menschlichen Seele mit einem scheinbar auswärtigen Gefüge bzw. „Gesprächspartner“. In diesem Konzert betrachten wir das Gebet aus verschiedenen Blickwinkeln: sei es eine Bitte um Frieden oder Unterstützung, eine Frage um Vergebung und Gnade, eine Klage oder eine hoffnungsvolle Beschwichtigung. Das alles vor dem Hintergrund des musikalischen Europa vom ausgehenden 16. bis hin zur Hälfte des 18. Jh. Zu dieser Zeit, als Religion und ihre Ausübung im christlich geprägten Abendland noch eine deutlich umfangreichere Gewichtung im Alltag der Menschen hatten, stellte das Gebet in Zeiten von Kriegen, Seuchen und Hungersnöten Zuflucht, Trost und auch eine Gewissheit dar. Dadurch war auch der Umgang mit dem Tod und der eigenen Sterblichkeit ein ganz anderer: einerseits war er Bestandteil einer ganz alltäglichen „Normalität“, andererseits war das eigene irdische Ende, durch die zahlreichen Entbehrungen des Lebens. Auch mit einer tiefen Sehnsucht nach Erlösung und Befreiung verbunden - nicht zuletzt präsent im barocken „Vanitas“-Gedanken.

 

Wir beginnen den Abend mit einem Agnus Dei, einem Friedensgebet, welches gegen Ende der Eucharistiefeier vorgetragen wird. In der gleichsam ältesten Komposition des heutigen Programms lässt William Byrd die Gläubigen alle möglichen Klangfarben erfahren. 

Besonders hervorzuheben sind vor allem sein Umgang mit den „peccata mundi“ (Sünden der Welt) und wie sehr sich das irdische „miserere“ (erbarme dich) und das himmlische „pacem“ (Frieden) motivisch ähneln.

Der „englische“ Block wird durch zwei Werke von Henry Purcell komplettiert. Das Besondere der Fantasia upon One Note für 5 Gamben bzw. Streichinstrumente ist, wie der Name schon vermuten lässt, dass eine Stimme durch das ganze Stück hindurch ein gehaltenes c spielt, eine Art Orgelpunkt, welcher eine Form von Meditation heraufbeschwört. In Remember not, Lord, our Offences bitten die Menschen Gott um die Vergebung ihrer Sünden. Purcell zeigt in dieser Komposition, dass er auf vorzüglichste Weise versteht, die Tradition der 5-stimmigen Vokalmusik, wie Byrd sie mitbegründet hat, gut 100 Jahre später in einer neuen Klangform weiterleben zu lassen.

Salamone Rossis Sinfonia grave und Gagliarda schlagen die Brücke zum menschlichen Erdenleben, spiegeln das Leben, seine Leiden und Freuden wider, als Reflexion für die Herkunft unserer Wünsche, Begehren, Bitten und Gebete. Wie man Musik für verschiedene Zwecke und Texte verwenden kann, zeigt Monteverdi unter anderem in Pulchrae sunt genae tuae, ein „Contrafactum“ (Umtextierung) eines Teils aus seinem Zyklus Ecco, Silvio. Der Text ist zwar ein neu gedichteter, jedoch sind die starken Einflüsse des „Hohelieds“ von König David aus dem Alten Testament der Bibel nicht abzustreiten. Auch das „Lied der Lieder” genannt, handelt es sich um eine Sammlung von zärtlichen, teilweise explizit erotischen Liebesliedern, in denen das Suchen und Finden, das Sehnen und gegenseitige Lobpreisen zweier Liebender geschildert wird. Im späteren Kontext wurde es aber auch als Dialog und Zwiegespräch der Seele und Jesus verstanden, also auch eine Form des Gebets. Eines von Johann Hieronymus Kapsbergers wohl berühmtesten Werken ist die Toccata Arpeggiata, welche durch ihre freie Art, die Harmoniefolgen zu gestalten, gleichsam einen meditativen, gebetsartigen Charakter erhält.

Die Kompositionen des folgenden Abschnitts sind alle durchweg mit der Thematik der Hoffnung im Gebet verknüpft. Heinrich Schütz ist einer der ganz großen Komponisten des deutschen Frühbarocks. Seine durch Monteverdi und Gabrieli inspirierte Weise, Worte mit Musik zu verbinden, hat es überhaupt ermöglicht, dass die Werke heutzutage zum Standardrepertoire von Chören auf der ganzen Welt gehören. Die mit Tränen säen ist zweifelsfrei eines dieser Werke, welches neben seiner genialen Kompositionsart mit Unmengen von Vorhalten, Dissonanzen und dergleichen auch durch seine emotionale Tiefgründigkeit besticht. Ein paar Jahre zuvor hatte Johann Schop seine Newe Paduanen, Galliarden, Allemanden, Balletten, Couranten, Canzonen veröffentlicht. Die Paduana a 5 ist dabei ein Beispiel instrumentalen Ausdrucks einer zu Beginn tiefen Traurigkeit, welche in den späteren Teilen jedoch gelichtet wird, Hoffnung keimt auf. Im letzten Teil kann man schon eine gewisse Leichtigkeit erfahren, es steht aber auch ein Drängen im Raum, mit synkopischen Imitationen in den beiden Violinen, welche ein crescendierendes Flehen nach oben symbolisieren, bevor das Stück in der Erlösung endet.

Der lutherische Choral Nun komm, der Heiden Heiland stellt die Hoffnung und die Versicherung auf das Kommen des Erlösers dar. Johann Sebastian Bach erhebt die ohnehin schon überirdische Choralmelodie in seinem Choralvorspiel für Orgel - heute von Streichern interpretiert - in gänzlich andere Sphären. In der Sinfonia zu seiner Kantate Nach dir, Herr, verlanget mich, BWV 150 schildert Johann Sebastian das Verlangen und Hoffen der Seele mit ausdrucksstarken Vorhaltsketten und Chromatismen. Sein Onkel und Vorbild Johann Christoph Bach zeichnet in seiner Motette Fürchte dich nicht einen Ausschnitt aus der Kreuzigungsszene aus dem Lukasevangelium nach. Nämlich den Moment, als Jesus zu dem einen neben ihm gekreuzigten Verbrecher spricht und ihm versichert, dass er „noch heute mit ihm im Paradies sein werde”. Kompositorisch stellt Bach Jesu Worte - wiederum mit Textteilen aus dem Hohelied ergänzt („du bist mein”) - als tiefen vierstimmigen Satz dem um Hilfe flehenden Verbrecher - oder in diesem Fall auch der menschlichen Seele – als Sopran-Choral gegenüber. Die Bitte der Seele ist nicht zu überhören.

In den heute erklingenden Werken von Charpentier dreht es sich um zwei weibliche Protagonistinnen der Bibel, Judith und Maria. La Nuit beschreibt die Szene, als Judiths Gebet um Hilfe und Beistand zu ihrem Gott verstummt ist und sie sich mit ihrer Magd nachts in das Lager des feindlichen Befehlshaber Holofernes begibt, um diesen zu verführen und zu töten, um das israelitische Volk zu retten. Sub tuum praesidium ist ein Gebet an die Gottesmutter Maria, in welchem die Betenden sie um Schutz, Gnade und Beistand anrufen. Das Besondere an dieser Vertonung Charpentiers ist, dass er ganz auf einen Basso Continuo verzichtet und drei Frauen- bzw. Knabenstimmen die musikalische Interpretation des Texts übernehmen lässt.

Die Teile aus Philipp Heinrich Erlebachs 4. Ouverture weisen ein hohes Maß an Melancholie auf. Nach der eröffnenden Ouverture folgt eine Traquenard, die uns mit ihren sich wiederholenden Rhythmusmotiven in eine Form der Trance versetzt, bevor in der Air lentement die Solovioline mit Seufzermotivik und fallenden Figuren über einem Streicherteppich ein klagendes Lamento anstimmt, sich im schnellen Teil wieder mit den übrigen Instrumenten zu einem homogenen Zusammenklang verbindet, um dann im letzten Teil mit kleinen Trio-Auszügen wieder die führende Rolle in einem tragischen Abgesang zu übernehmen. Ein weiteres Klagelied schickt der Sänger - heute die Violine - in Erlebachs Lied Himmel, du weißt meine Plagen himmelwärts. Zunächst wirft er dem Himmel vor, seine Plagen zu kennen, neue Wunden zu schlagen und kein Pflaster übrig zu haben für seine Pein. In der letzten Strophe wird der Ankläger jedoch wieder versöhnlicher und schildert, dass er trotz allem dem Himmel vertrauen will und sich auch getröstet fühlen kann.

Den letzten Konzertabschnitt durchzieht der Gedanke der Endlichkeit, der Vergänglichkeit und trotz oder gerade deswegen ein Gefühl von Zuversicht. Johann Sebastian Bachs Herr Jesu Christ, dich zu uns wend ist auch musikalisch weniger eine Bitte als eine stille Gewissheit, dass dem auch genauso ist. Das Lied von Johann Christoph Bach Es ist nun aus mit meinem Leben, welches lange Zeit Johann Sebastian zugeschrieben wurde, schließt den vokalen Gebetsreigen des heutigen Abends - ohne Bitterkeit, ohne Angst - mit den Worten „Welt, gute Nacht”, bevor zum Abschluss eine intime Sarabande von Erlebach uns in die Nacht entlässt…

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Lukas Michael Hamberger, 2025

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